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"Man hätte vom Holodomor wissen können"

Christine Lehnen
30. November 2022

Der Bundestag hat die Hungersnot in der Ukraine als Völkermord anerkannt. In der Sowjetunion war es verboten, über den Holodomor zu sprechen. Warum schaute auch der Westen so lange weg? Chronik eines Vergessens.

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Das Holodomor-Denkmal in Kiew zeigt eine Mädchen-Statue. Sie steht im Schnee.
Das Holodomor-Denkmal in KiewBild: Andre Luis Alves/AA/picture alliance

Ein halbes Jahrhundert wurde nicht über eine der schlimmsten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts gesprochen: Von 1932 bis 1933 starben rund 8 Millionen Menschen in der Sowjetunion an Hunger, davon rund 4 Millionen Menschen in der Ukraine, die schon damals als "Kornkammer Europas" galt. Der sowjetische Diktator Josef Stalin und sein Regime ließen die Bäuerinnen und Bauern in der Ukraine gezielt verhungern, da sie einen Aufstand gegen das kommunistische Regime und deren Zwangskollektivierung landwirtschaftlicher Betriebe befürchteten.

Danach taten sie einfach so, als habe es die Hungersnot nie gegeben. Ergebnisse einer Volkszählung wurden vertuscht, die Volkszähler erschossen. Auch in der Sowjetrepublik Kasachstan, im Nordkaukasus, an der Wolga und in Westsibirien verhungerten insgesamt mehr als 2 Millionen Menschen. Bis heute streitet das russische Regime jegliche Verantwortung für die Hungersnot ab.

Das bezeichnet der Historiker Gerhard Simon als den "letzten Akt des Verbrechens": Es gab keinen Friedhof, keine Erinnerung, kein öffentliches Wort. "Niemand sprach darüber, niemand schrieb darüber."

Sowjetische Propaganda: "Lebensmittelknappheit" statt Hungertod

Dabei wurde über den "Holodomor" - Ukrainisch für "Tod durch Verhungern" - schon damals berichtet. Gareth Jones, ein britischer Journalist, reiste in den 1930er-Jahren in die Sowjetunion und die betroffenen Gebiete der Ukraine. Der im Jahr 1905 im britischen Wales geborene Jones war politischer Berater des damaligen Premierministers David Lloyd George, lernte Russisch und recherchierte mit großem Interesse in der Sowjetunion, um den Kommunismus und seine utopischen Versprechen kennenzulernen.

Seine Erkenntnisse präsentierte er im März 1933 auf einer Pressekonferenz in Berlin. Dort sprach er das erste Mal nicht von einer "Lebensmittelknappheit", wie es die stalinistische Propaganda gerne nannte, sondern einer "Hungersnot".

Denkmal für Holodomor-Opfer in Kiew mit Besucherinnen und Besuchern. Zu sehen ist eine Mädchen-Statue, umgeben von Blumen und Kerzen.
26. November 2022: Gedenken an die Opfer des Holodomor in KiewBild: Valentyn Ogirenko/REUTERS

"Gareth Jones war der einzige westliche Journalist, der in die Gebiete der Ukraine gereist war, wo der Holodomor stattfand", erklärt André Erlen, Mitglied des Theaterensembles "Futur3". "Trotzdem wurde ihm nicht geglaubt und seinen Reportagen Artikel aus Moskau entgegenstellt, verfasst von westlichen Korrespondenten, die voller sowjetischer Propaganda waren."

Das freie "Futur3"-Ensemble setzt sich schon seit Jahren für Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine ein und ist Begründer der Initiative "Art Against War".

Westliche Linke wollte der Sowjetunion glauben

Sogar Historikerinnen und Historiker, die im Westen zum Holodomor forschten, wurden diskreditiert, führt Erlen aus. Gemeinsam mit seinem Kollegen Stefan Kraft hat er die künstlerische Leitung des Theaterstücks "Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern" inne, das den Holodomor in der Ukraine zum Thema hat, und Gareth Jones als einen von vier Zeugen auf der Bühne wiederauferstehen lässt. Es hat im November am Schauspiel Köln Premiere gefeiert.

"Die europäische Linke wollte das sowjetische Projekt stützen", erläutert Stefan Kraft. So erklärt er sich, dass sie die große Hungersnot verleugnete. "Man hätte vom Holodomor wissen können, auch damals schon, es stand in den Zeitungen. Aber man wollte nicht, um das utopische Projekt des Sozialismus nicht zu gefährden", so Kraft weiter.

Ein Mann auf einer Bühne beißt in einen Apfel.
Das Schweigen brechen: Im Theaterstück "Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern" des Kölner Ensembles "Futur3" geht es darum, warum der Holodomor so lange ignoriert wurdeBild: Ana Lukenda

Darin sieht der künstlerische Leiter eine Parallele zur Außenpolitik der Bundesrepublik seit 1945, insbesondere der Ostpolitik, die geprägt war vom "schlechten Gewissen" gegenüber der Sowjetunion und ihrem Nachfolgestaat Russland, die Nazi-Deutschland unter Hitler überfiel und mit Schrecken und Völkermord überzog. Die Ukraine sowie weitere Sowjetrepubliken wie Kasachstan seien dabei als Staaten einfach übersehen worden, dem deutschen Wunsch nach Sühne zum Opfer gefallen.

Jahrzehntelang konzentrierte sich auch die Forschung im Westen auf Moskau statt die Ukraine, den Nordkaukasus oder Kasachstan, was der renommierte Osteuropahistoriker Karl Schlögel unlängst als großes Versäumnis bezeichnete.

André Erlen: Holodomor als Teil einer langen Gewalterfahrung in der Ukraine

Erst nach dem jüngsten Einmarsch der Russen in die Ukraine im Februar hat nun auch der deutsche Bundestag beschlossen, den Holodomor als Völkermord anzuerkennen.

Außenministerin Baerbock in der Ukraine: Sie trägt eine schwarze Maske und steht vor der Statue eines Mädchens.
Im Februar 2022 besuchte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock das Holodomor-Mahnmal in KiewBild: Efrem Lukatsky/AP/picture alliance

Dass er als ein solcher gelten muss, daran hat die US-Historikerin Anne Applebaum keinen Zweifel: "Es war ein geplanter und angeordneter Massenmord", sagt sie dem Deutschlandfunk.

Für André Erlen muss die Debatte über den Holodomor sogar noch weiter gehen. "Der Holodomor sollte wahrgenommen werden als Teil einer langen Gewalterfahrung. Das ist eine andere Art der Kolonialgeschichte", so Erlen, die die Ukraine unter dem russischen Reich, der Sowjetunion und dem modernen Russland erlebt habe.

Ein Schauspieler steht auf der Bühne und liest Zeitung.
Auf der Bühne ersteht der Journalist Gareth Jones wieder zum Leben aufBild: Ana Lukenda

"Für die Ukrainer gibt es diese Erzählung, dass seit 300 Jahren Unterdrückung stattfindet", führt er aus. "In jeder Epoche findet man Vertreibung, Unterdrückung, das Verbot der eigenen Sprache oder von Liedern, die man nicht singen durfte." Darum geht es auch in ihrem Stück, bei dem auch geflüchtete ukrainische Performerinnen und Performer mitwirken: um den "großen Bogen" der Gewalterfahrung in der Ukraine, der im Westen lange übersehen worden ist - und seit dem russischen Angriffskrieg nicht mehr zu übersehen ist.