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Politik

Stalin, Hitler und Putins Geschichtspolitik

Artem Ivanov
6. März 2021

Russlands Präsident Putin will Vergleiche zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus verbieten lassen. Im DW-Interview analysiert der polnische Historiker Krzysztof Ruchniewicz Putins machtpolitische Motive.

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Bildkombo Hitler und Stalin
Umstritten: Vergleiche zwischen Hitler und StalinBild: picture alliance/AP/Heritage Images/Ann Ronan Pictures

Russlands Präsident Wladimir Putin will 80 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion seine geschichtspolitische Position stärken. Der Präsident hat der Duma empfohlen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine öffentliche Gleichsetzung der Rolle der UdSSR und Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg explizit verbietet.

Bereits im vergangenen Jahr hatte Putin in einem Aufsatz zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges die Verantwortung der Sowjetunion für den Kriegsausbruch und den Hitler-Stalin-Pakt relativiert. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt enthielt unter anderem auch ein Geheimprotokoll, in dem die Aufteilung Polens und Osteuropas festgelegt wurde.

Hitler brach mit dem Nichtangriffspakt, und die Wehrmacht überfiel am 22. Juni 1941 die Sowjetunion. Im kollektiven Gedächtnis der russischen Bürger lebt der Zweite Weltkrieg noch. Und in diesem kollektiven Gedächtnis hat die Sowjetunion zwei Rollen - die des angegriffenen Opfers und die der Siegermacht zu Kriegsende. Was zwischen den Jahren 1939 und 1941 geschah wird häufig ausgeblendet.

Der polnische Historiker und Experte für Erinnerungskultur, Krzysztof Ruchniewicz, behauptet im DW-Interview, Putin rücke bewusst unbequeme Fakten in den Hintergrund. Ruchniewicz ist Leiter des Lehrstuhls für Geschichte an der Universität Wroclaw und Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien. Er kämpft gegen die politische Instrumentalisierung von Geschichte.

Deutsche Welle: Herr Ruchniewicz, wie beurteilen Sie die Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin? Kann man die Rollen von Hitler-Deutschland und Stalins Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg überhaupt vergleichen?

Krzysztof Ruchniewicz: Der Vergleich ist in der Geschichte eine der grundlegenden Forschungsmethoden. In diesem speziellen Fall ist anzumerken, dass Deutschland und die UdSSR nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes eine enge Zusammenarbeit aufbauten. Infolge dieses Paktes - und der Unterzeichnung des sogenannten Geheimprotokolls - griff Deutschland am 1. September 1939 Polen an, während die UdSSR am 17. September Polen überfiel. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern dauerte bis zum Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges, also bis zum 22. Juni 1941. Da in Russland dem "Großen Vaterländischen Krieg" immer noch große Aufmerksamkeit geschenkt wird, rückt der russische Präsident Putin unbequeme Fakten bewusst in den Hintergrund.

Es muss daran erinnert werden, dass nicht nur Polen überfallen wurde. Die UdSSR besetzte auch die baltischen Staaten. In jedem dieser Gebiete wurde die sowjetische Ordnung eingeführt, zu deren Elementen Repressionen, die Ausrottung der Elite und die Deportation von hunderttausenden Menschen ins Innere der UdSSR, in die Verbannung und in Gulag-Lager gehörten. Die Besatzungspolitik Deutschlands und der UdSSR in den Jahren 1939 bis 1941 kann verglichen werden, und es ist sogar ein notwendiges Verfahren, um die jeweilige Besonderheit zu zeigen und das Funktionieren von zwei totalitären Regimen in den eroberten Gebieten zu demonstrieren.

Würden Sie Stalin mit Hitler vergleichen? Wenn ja, wie würde so ein Vergleich aussehen?

Krzysztof Ruchniewicz, Professor an der Universität Wrocław
Krzysztof RuchniewiczBild: Privat

Bei vergleichenden Studien zwischen Hitler und Stalin geht es nicht um eine Gleichsetzung, sondern um das Aufzeigen von Besonderheiten, auch vor dem Hintergrund des historischen Umfelds der Zeit. Keiner dieser Diktatoren operierte in einem luftleeren Raum. Es gibt Publikationen, die die Biografien beider Diktatoren einander gegenüberstellten, zu nennen ist hier vielleicht die bekannteste Studie von Alan Bullock aus dem Jahr 1991.

Deutschland unter Hitler und die UdSSR unter Stalin, das waren totalitäre Staaten. Sie unterschieden sich in ihrer Herangehensweise an ideologische Fragen. Als feindlich oder unerwünscht identifizierte Menschen oder Gruppen wurden ausgerottet. Unabhängig davon stand das Interesse der einzelnen Diktatoren bei allen ideologischen Unterschieden nicht im Wege, ein Bündnis zu schließen. Was zählte, waren die Bedürfnisse eines bestimmten historischen Moments.

Nach dem deutschen Angriff wurde die Sowjetunion vom Täter zum Opfer, und mehr und mehr zum wichtigen Mitglied der Anti-Hitler-Koalition. Allerdings hörte die UdSSR auch nach 1944/45 nicht auf, ein totalitärer Staat zu sein. Darüber hinaus dehnte sie nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Einfluss auf die Länder Mittel- und Osteuropas aus, darunter auch auf Polen, das sie nicht nur unterjochte, sondern auch tiefgreifend transformierte, also sowjetisierte.

Wird der Holocaust und andere Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg durch den Vergleich mit der Sowjetunion relativiert?

Dies sind zwei unterschiedliche Dinge. Wir schauen uns in jedem Fall die Besonderheiten an. Im Allgemeinen können wir sagen, dass die Nazi-Verbrechen rassisch motiviert waren, während die sowjetischen Verbrechen klassenbedingt waren. Beide Systeme waren verbrecherisch und hatten den Tod von Millionen von Menschen zur Folge. Millionen von Menschen, die die Repressionen überlebten, wurden zu Krüppeln oder psychisch krank - bis heute leiden auch die Nachfahren der Opfer unter den Folgen der Nachkriegstraumata. Bei Langzeitaufenthalten in sowjetischen Lagern haben wir es auch mit zerstörten Lebensbiografien zu tun.

Verdrängungen und Vernichtungen parallel zu zeigen, heißt nicht, sie zu relativieren. Vielmehr vervollständigt ein Vergleich das Bild des 20. Jahrhunderts, insbesondere seiner finsteren Jahrzehnte: der 1920er, 1930er und 1940er-Jahre. Der Vergleich zeigt verschiedene Opfergruppen des Totalitarismus, darunter auch solche, die bisher - schon wegen der erwähnten Angst vor Relativierung - wenig beachtet wurden. Meiner Meinung nach schmälert das nicht den Stellenwert des Holocausts in der Forschung und im kollektiven Gedächtnis.

Übergabe von Deutschen eroberten Festung Brest-Litowsk an Rote Armee (22.09.1939)
Übergabe der von Deutschen eroberten Festung Brest-Litowsk an die Rote Armee (22.09.1939)Bild: picture-alliance/akg-images/Gutjahr

Warum beschränkt sich die Diskusssion über Verbrechen im Zweiten Weltkrieg oft nur auf die Rolle der UdSSR und von Nazideutschland?

Deutschland hat den Krieg verursacht, die UdSSR hat sich auf seine Seite gestellt. Die Tatsache, dass sie sich nach mehreren Monaten verteidigen musste, bedeutet nicht, dass bestimmte Fakten verschwiegen werden dürfen. Dies waren kriminelle Regimes. Repressionen, Verbrechen, Verhaftungen waren an der Tagesordnung, die Opfer waren die Bürger der eroberten Länder. Beide Regime schufen ein System von Konzentrations- und Isolationslagern. Die Besatzungspolitik war gekennzeichnet durch Entrechtung der einheimischen Bevölkerung und Deportationen von Hunderttausenden. Auch wirtschaftliche Ausbeutung im großen Stil wurde organisiert, Kulturgüter wurden geplündert oder absichtlich zerstört.

Um das Schicksal aller Völker Mittel- und Osteuropas in den Kriegsjahren aufzuzeigen, ist es aber auch notwendig, die sowjetische Politik zu analysieren. Natürlich kann die Diskussion nicht allein auf diese beiden Länder reduziert werden; auch Japan, ein weiterer deutscher Verbündeter, und seine Politik in Fernost müssen berücksichtigt werden.

Das Gespräch führte Artem Ivanov.