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Ukrainer: Kein Asyl für russische Deserteure

27. September 2022

Wegen Putins Teilmobilmachung flüchten Kriegsdienstverweigerer ins Ausland. Deutsche Politiker sind offen dafür, sie aufzunehmen. Doch die ukrainische Community ist skeptisch.

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Russland Teilmobilmachung Symbolbild
"Tag des Sieges über Nazi-Deutschland" - Russischer Soldat auf der Militärparade in Moskau am 9. Mai 2022Bild: Mikhail Metzel/Kremlin Pool/Planet Pix/ ZUMAPRESS.com/picture alliance

Als die Ukrainerin Kateryna Rietz-Rakul dieser Tage hört, Deutschland wolle russische Deserteure aufnehmen, hält die Wahlberlinerin das zunächst für einen schlechten Scherz. "Ich dachte, das kann unmöglich wahr sein, ich konnte das zuerst nicht glauben. Das muss Satire sein, vielleicht eine Meldung in diesem Satire-Magazin 'Postillon'. Bis ich mir die Nachrichten angesehen habe", sagt die Simultandolmetscherin, die seit 20 Jahren in Deutschland lebt.

Dort sieht sie mit großem Erstaunen, wie sich die deutschen Politiker mit Hilfsangeboten für die russischen Kriegsdienstverweigerer förmlich überschlagen, quer durch das Bündnis der Ampel-Regierung. "Wer Putins Weg hasst und liberale Demokratie liebt, ist uns in Deutschland herzlich willkommen," betont Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).

"Solche Menschen zu unterstützen, solchen Menschen Zuflucht zu geben, das halte ich wirklich für selbstverständlich", sagt der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil von der SPD. Und die Parlamentsgeschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, fordert: "Wer sich als Soldat an dem völkerrechtswidrigen und mörderischen Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine nicht beteiligen möchte und deshalb aus Russland flieht, dem muss in Deutschland Asyl gewährt werden."

Sind die Deserteure wirklich gegen Russlands Angriffskrieg?

Rietz-Rakul, die sich beim Humboldtforum um ukrainische Stipendiaten kümmert, kann dies nicht verstehen. Russischen Deserteuren Asyl zu geben sei eine klare politische Fehlentscheidung. "Das sind ja keine Oppositionellen oder Dissidenten. Sie wollen nur nicht das eigene Leben riskieren. Mit der russischen Politik hatten sie bis vor ein paar Tagen kein Problem, und jetzt sind sie aufgewacht. Aber es ist nicht Aufgabe des Westens, diese Menschen zu schützen."

Die Ukrainerin verweist auf die Videos, die von der georgischen Grenze zu Russland viral gehen. 50.000 Russen haben sich schon in den letzten Tagen in die Nachbarstaat abgesetzt, auch weil Polen und die baltischen Staaten ihre Grenzen aus Furcht vor Spionen quasi dichtgemacht haben.

"Da sehen wir Russen, die sich aufregen, weil sie abgewiesen werden, weil sie entweder einen Z-Aufkleber auf dem Auto oder Z-Tattoos auf dem Körper haben", sagt Rietz-Rakul. "Und dann kommen so Kommentare wie: 'Georgier, erinnert Euch besser an die Panzer von 2008.' In Deutschland sagt man immer, hätten wir doch nur schon früher auf die Osteuropäer gehört. Und jetzt hört man wieder nicht auf die Osteuropäer."

Doch kann Deutschland wirklich Menschen abweisen, die nicht bei dem russischen Angriffskrieg mitmachen wollen? Ein Argument, das in der deutschen Politik jetzt häufig wiederholt wird, lautet: Jeder Soldat, der hierzulande Asyl erhält, ist ein Soldat weniger für Putins Armee. Eine Milchmädchenrechnung, glaubt Kateryna Rietz-Rakul. "Das finde ich irreführend, denn Russland wird seine 300.000 oder eine Million Reservisten so oder so zusammenbekommen. Es ändert also nichts an der Tatsache, außer dass wir hier ein großes Sicherheitsproblem haben werden."

Große Herausforderung Sicherheitsüberprüfung

Die Erteilung von Asyl sei eine Einzelfallentscheidung, in deren Rahmen auch eine Sicherheitsüberprüfung erfolge, heißt es aus dem Bundesinnenministerium. Gerade bei Angehörigen des russischen Militärs müsse man wissen, wer eigentlich nach Deutschland kommen wolle. CDU-Chef Friedrich Merz hat nun angekündigt, er sei "strikt dagegen, allen Verweigerern des Kriegsdienstes, der Mobilisierung in Russland Zugang zur Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen". Und auch Rietz-Rakul fragt sich, wie die deutschen Behörden eine mögliche Flut von Anträgen in der aktuellen Situation bewältigen wollen.

"Wir sind hier in Deutschland jetzt schon überfordert mit der Aufnahme von ukrainischen Frauen und Kindern, mit den Wohnungen und den Dokumenten. Jetzt sagen auch viele Bundesländer, wir sind überfüllt und können keine Geflüchteten mehr aufnehmen. Wo sollen diese Männer aus Russland hin? Wie wird diese Sicherheitsprüfung stattfinden? Und wie werden ihre sozialen Netzwerke überprüft?"

Mehr als eine Millionen Menschen aus der Ukraine sind bereits in Deutschland registriert, vor allem Frauen und Kinder. Kateryna Rietz-Rakul erinnert daran, dass viele vor russischen Soldaten geflohen seien. Um dann in ihrer neuen Heimat wieder auf russische Soldaten zu treffen, falls Deutschland für das Asyl für Deserteure grünes Licht gebe. "Das ist verrückt, es gibt jetzt ja schon viele verbale und nonverbale Übergriffe auf die Ukrainerinnen. Warum nimmt man nicht lieber Frauen aus Dagestan oder dem Iran auf?"

Widerstand gegen Teilmobilmachung in Russland

Furcht der ukrainischen Aktivistinnen und Aktivisten

Ana, die eigentlich anders heißt, weiß, wie es sich anfühlt, bei Kundgebungen von russischen Gegendemonstranten angegangen zu werden. Die Ukrainerin kam als Kind nach Deutschland und ist Aktivistin für den ukrainischen Diaspora-Verein Vitsche, der auch federführend für die Proteste in der deutschen Hauptstadt ist. Sie sagt: "Als Aktivisten haben wir natürlich Angst, weil es jetzt schon oft bei Demonstrationen zu Provokationen kommt, wo Leute mit russischem Hintergrund versuchen, Teilnehmer zu provozieren. Die Sicherheitsbedenken sind noch gar nicht in Deutschland angekommen."

Berlin | Ukraine-Solidaritätsaktion mit der Putin-Plastik von Jaques Tilly
Wladimir Putin verschluckt sich an der Ukraine - Solidaritätsaktion vor dem Brandenburger TorBild: Christian Behring/Geisler-Fotopress/picture alliance

Vor einer Woche hat Vitsche vor dem deutschen Verteidigungsministerium für Lieferungen von Schützenpanzern in die Ukraine demonstriert. Im Oktober ist eine Kundgebung geplant, wie Intellektuelle in Deutschland der russischen Propaganda angeblich auf den Leim gehen. Zur Arbeit der Nichtregierungsorganisation gehört es auch, die sozialen Medien Russlands zu durchforsten. Ihr Ergebnis:

"In russischen Z-Gruppen haben viele Leute ganz laut gejubelt, wenn irgendwelche Kriegsverbrechen passiert sind. Nach der Mobilisierung sind dieselben Leute von einem Tag auf den anderen geflohen oder wollen fliehen. Man sollte sie nicht ins Land lassen. Weil die russische Armee gerade sehr viele Verluste verzeichnet, möchten sie sich den Krieg lieber bequem aus der Entfernung anschauen. Aber man weiß nicht, ob sie sich wirklich auch von diesem Krieg distanzieren."

Menschen aus der Ukraine kritisieren deutsche "Naivität"

Auch Ana glaubt nicht, dass Sicherheitsüberprüfungen in großer Zahl die Haltung der russischen Deserteure ausreichend unter die Lupe nehmen können, Chatverläufe seien ja leicht zu löschen. Außerdem käme jetzt der apolitische, privilegierte Mittelstand aus den größeren Städten. "Die haben gute Beziehungen und das Geld, sich diese teuren Flüge zu leisten. Und sicherlich auch die Mittel zu verschleiern, was ihre Position die letzten Monate war."

Deutschlands Haltung zu den russischen Deserteuren ist ein Abziehbild der generellen deutschen Position zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, denken viele der Ukrainer und Ukrainerinnen hier in Deutschland. Immer noch glaubten zu viele hierzulande an den Mythos der guten, geheimnisvollen russischen Seele. Ana sagt:

"Diese Naivität hat uns dahin gebracht, wo wir heute sind. Wir haben immer in Westeuropa unsere Arme geöffnet und gesagt, das sind unsere Werte, wir akzeptieren euch, wir tolerieren euch und ihr könnt machen, was ihr wollt. Aber diese Naivität wird uns nicht weiterbringen. Es wird nur weiter unsere Sicherheit beeinträchtigen und auch die der ukrainischen Geflüchteten hier in Deutschland."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur