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PolitikTunesien

Migration: Wird Tunesien zum "Ruanda" der EU?

Jennifer Holleis | Tarak Guizani
30. April 2024

Tunesien hilft der EU dabei, die irreguläre Migration Richtung Europa einzudämmen. Doch angesichts einer zunehmend repressiv agierenden Regierung betonen Menschenrechtler, das Land sei kein sicherer Ort für Migranten.

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Zwei Aktivistinnen demonstrieren gegen die Not von Flüchtlingen aus Subsahara-Ländern in Tunesien
Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika in TunesienBild: Fathi Nasri/AFP/Getty Images

Wie umgehen mit irregulären Flüchtlingen? Auf der Suche nach Antworten hat die Europäische Union in den vergangenen Monaten immer wieder Tunesien in den Blick genommen. Könnte sich das nordafrikanische Land sogar anbieten, zeitweilig auch Menschen aufzunehmen, die nicht die Voraussetzungen für einen Aufenthalt auf dem Gebiet der EU mitbringen?

Ein solches Modell würde dem umstrittenen "Ruanda-Modell" Großbritanniens entsprechen. Dieses zielt darauf ab, Asylsuchende, die versuchen, irregulär einzureisen, in das Land im Süden Afrikas zu deportieren - auch wenn sie nicht von dort stammen oder dorther gekommen sind.

In den EU-Ländern gibt es neben vielen Kritikern durchaus auch Befürworter eines solchen Modells. Tatsächlich spricht derzeit aber wenig dafür, dass Tunesien zu einer Art "Ruanda der EU" wird. Das gilt unabhängig davon, dass sich Tunesiens Küste längst zu einem rege genutzten Ausgangspunkt für Migranten aus Nordafrika und Subsahara-Ländern auf ihrem Weg nach Europa entwickelt hat.

"Weder Zentrum noch Durchgangsstation"

Tunesien werde "weder ein Zentrum noch eine Durchgangsstation" für Migranten aus Ländern südlich der Sahara werden, bekräftigte hingegen Anfang April der tunesische Präsident Kais Saied. Auch werde das Land keine Migranten aufnehmen, die aus Europa abgeschoben würden, erklärte er kategorisch.

Saied gibt solche Erklärungen nicht zum ersten Mal ab. Dieses Mal wurde er jedoch sogar von der italienischen rechtsgerichteten Ministerpräsidentin Giorgia Meloni unterstützt. Die Schützenhilfe aus Rom kam unerwartet, denn bislang versucht insbesondere Italien, mit allen Mitteln die Migration aus Tunesien zu begrenzen.

Zustande kam der Schulterschluss, kurz nachdem Italien drei neuen Abkommen mit Tunesien zugestimmt hatte. Diese sind Teil des italienischen "Mattei-Plans", einer auf ganz Afrika gerichteten Strategie, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit erweitern, zugleich aber auch Migration eindämmen will.

Unterzeichnet wurden diese Abkommen rund acht Monate, nachdem die EU Tunesien ein "Partnerschaftsprogramm" im Wert von über eine Milliarde Euro an finanzieller Unterstützung angeboten hatte. Dieses umfasste auch 105 Millionen Euro zur Eindämmung der irregulären Migration.

Weniger Ankünfte in Italien

Die Partnerschaft hat offenkundig zumindest in einem ersten Schritt durchaus Wirkung entfaltet. So hat Tunesien laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bis zum 15. April 2024 rund 21.000 Migranten abgefangen, bevor sie europäische Gewässer erreichen konnten.

Auch aus Sicht Melonis ein Erfolg: Denn in diesem Zeitraum erreichten mit rund 16.000 Menschen insgesamt weniger als halb so viele Migranten Italien wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die meisten Migranten legten von Tunesien aus ab, in geringerem Maße aber auch aus Libyen und Algerien.

"Flüchtlingsrechte werden untergraben"

Doch die Kritik an der Zusammenarbeit ist nicht zu überhören. "Das EU-Abkommen mit Tunesien zielt darauf ab, Migranten und Flüchtlinge von der EU fernzuhalten, nicht aber von Tunesien selbst", sagt Kelly Petillo, Nahost- und Nordafrika-Expertin beim European Council on Foreign Relations, im DW-Gespräch.

Außerdem gehe keines der Abkommen auf die Tatsache ein, dass Tunesien für Flüchtlinge nicht als "sicheres Land" gelten könne. In der Zusammenarbeit mit Tunesien ignoriere Europa weitgehend den Umstand, dass Präsident Kais Saied seit dem Sommer 2021 nicht nur die meisten demokratischen Institutionen des Landes abgebaut habe, sondern auch hart gegen Migranten vorgegangen sei. Kritiker warfen ihm unter anderem vor, Bürger gegen Migranten aufgewiegelt zu haben. In Medienberichten war mitunter von Hetze die Rede.

"Die Abkommen mit der EU und Italien untergraben die Rechte von Flüchtlingen und Migranten sogar", urteilt Petillo.

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Salsabil Chellali, Tunesien-Expertin von Human Rights Watch, sieht dies ähnlich: "Werden Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge auf See abgefangen, sind sie schweren Misshandlungen durch die tunesischen Sicherheitskräfte ausgesetzt (...)", berichtet die Menschenrechtlerin. "Auch wenn Menschen nach Tunesien zurückgebracht werden, könnten sie dort Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen, Inhaftierungen und kollektive Ausweisung erleiden", so Chellali.

Allerdings sei die negative Situation nicht allein auf die harte Politik des Präsidenten zurückzuführen, so Chellali, auch die EU trage Verantwortung: "Denn die EU finanziert weiterhin die Migrationskontrolle in Tunesien auf Kosten der Menschenrechte und jener Werte, die man in Brüssel angeblich vertritt."

Hinzu komme, dass es in Tunesien kein ordentliches Asylsystem gebe, das Menschen einen verlässlichen Status samt Arbeitserlaubnis gewähre, ergänzt Lauren Seibert, Expertin für Migrantenrechte bei Human Rights Watch, gegenüber der DW.

Migranten wärmen sich in Tunis nachts an einem Lagerfeuer
Weitgehend auf sich selbst gestellt: Migranten in TunesienBild: Chedly Ben Ibrahim/NurPhoto/picture alliance

Unzureichende Unterstützung

"Zwar ist das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) grundsätzlich in der Lage, Asylsuchende und Flüchtlinge in Tunesien zu registrieren", so Seibert. Doch die humanitäre Unterstützung sei völlig unzureichend. Viele Migranten seien obdachlos und ohne Mittel. "Selbst registrierte Flüchtlinge haben Schwierigkeiten beim Zugang zu Arbeit und öffentlichen Dienstleistungen".

Derzeit sind in Tunesien rund 12.000 Flüchtlinge und Asylsuchende beim UNHCR registriert.

Die italienische Küstenwache rettet Migranten auf dem Mittelmeer
Die Zahl der in Italien ankommenden Migranten hat sich zuletzt halbiertBild: Hasan Mrad/ZUMA Wire/IMAGO

"Aber Frau Meloni weiß natürlich, dass inzwischen bis zu 80.000 Migranten aus Subsahara-Staaten in den Olivenplantagen südlich der tunesischen Hafenstadt Sfax auf besseres Wetter (für die Überfahrt nach Europa) warten", sagt Heike Löschmann, Leiterin des Tunis-Büros der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung.

Mit anderen Worten: Die irreguläre Einwanderung nach Europa aus und über Tunesien dürfte trotz aller Kooperations- und Eindämmungsbemühungen nicht so einfach zu stoppen sein.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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Tarak Guizani Freier Korrespondent Tunesien