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PolitikEuropa

Kaum Hilfe für Flüchtende in Griechenland

7. Juli 2022

Ein iranischer Geflüchteter auf der Insel Lesbos besteht das griechische Abitur mit Bestnote. Die griechischen Medien feiern den Erfolg - doch für die meisten Asylsuchenden sieht die Realität in Griechenland anders aus.

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Griechenland Insel Lesbos | Flüchtlinge
Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos sind auf die Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks angewiesenBild: Tatiana Bolari/ANE Edition/IMAGO

Für den 19-jährigen Kourosh Baygi Nourmohammidi beginnt ein neues Leben, wie für viele andere Jugendliche auch, die in Griechenland in diesem Jahr ihr Abitur bestanden haben. Der junge Iraner hat vielleicht sogar bessere Chancen: Er hat die gefürchteten "Panellines", die Prüfungen, die in Griechenland für die Universitäten qualifizieren, mit Bestnote bestanden. Er kann sich die Universität und das Fach aussuchen - für den Großteil seiner Mitschülerinnen und Mitschüler ist dies nicht der Fall. Kouroshs exzellentes Ergebnis verdient besondere Anerkennung, weil er erst seit drei Jahren in Griechenland lebt, aber dessen schwierige Sprache inzwischen auf so hohem Niveau beherrscht, dass ihm auch die vielen Interviews nicht schwerfallen, die nach dem Bekanntwerden seines Durchstarter-Abiturs über ihn hereinbrachen: "Ein Jahr lang habe ich in der Wohnung gesessen und gelernt", sagt er im Interview mit einem lokalen Fernsehsender und lacht.

Dass Kourosh kein Grieche ist, ist kaum hörbar. Wie viele andere Asylsuchende kam auch er per Boot auf der Insel Lesbos an und begann sein neues Leben im berüchtigten Lager Moria. Gemeinsam mit seiner Familie. Das war 2019. Jetzt leben sie in Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos: "Ich habe meine Freunde hier und meine Schule. Die Lehrer und meine Mitschüler haben mich sehr unterstützt", erzählt er der Reporterin. Sein Plan: Nach dem Sommer an der Universität Thessaloniki Elektroingenieurwesen zu studieren.

Griechenland Ministerpräsident Mitsotakis mit Schüler und Flüchtling Kourosh Baygi Nourmohammidi aus Iran
Griechenlands Ministerpräsident Mitsotakis empfängt den iranischen Schüler Kourosh Bild: Dimitris Papamitsos/Greek Prime Minister's Office

"Mein Handy klingelt die ganze Zeit", sagt Kourosh in einem anderen Interview. Wie ein Lauffeuer hat sich die Nachricht des erfolgreichen Flüchtlings in den griechischen Medien verbreitet. Eigentlich nennt man Menschen wie Kourosh "Lathrometanastes", ein abwertender Begriff, der häufig mit "illegaler Einwanderer" übersetzt wird, aber eigentlich bedeutet, dass ein Mensch wie ein Objekt ins Land geschleust wird. Auch führende Politiker benutzen diesen Begriff, um Stimmung gegen Schutzsuchende zu machen. Der offizielle griechische Standpunkt: Die Türkei ist ein sicheres Drittland. Immer wieder erinnern Politiker an den Februar 2020, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan tausende Asylsuchende an die griechisch-türkische Grenze brachte, wo sie tagelang zwischen beiden Ländern festsaßen. Die Botschaft Athens: Erdogan schickt Flüchtende nach Griechenland, um das Land und somit die EU anzugreifen.

Systematische Verletzungen des Menschenrechte

Daran erinnerte der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis auch bei einer Rede vor dem EU-Parlament in Brüssel, wo die niederländische Europaabgeordnete Tineke Strik (Grüne) ihm zuvor Griechenlands brutale Abschiebetaktik vorgeworfen hatte. Massenweise werden Asylsuchende illegal in die Türkei abgeschoben. Neue Recherchen internationaler Medien in Kooperation mit der Medienorganisation Lighthouse Reports hatten kürzlich beweisen können, dass Athen bei illegalen Abschiebungen am Evros, dem Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland, Asylsuchende dazu zwingt, die Boote mit Schutzsuchenden zurück an das türkische Ufer zu steuern. In Brüssel versicherte Premierminister Mitsotakis, man müsse einigen der schweren Anschuldigungen nachgehen, mahnte aber: "Wir dürfen türkische Propaganda nicht wiederholen."

Ein kleines Boot mit Flüchtlingen in Schwimmwesten kommt am Kai von Mytelene auf Lesbos an. Ein Matrose wirft ein Seil aus, um das Boot festzumachen.
Flüchtlinge aus Afghanistan und Eritrea erreichen im März 2016 von der Türkei kommende LesbosBild: Guillaume Pinon/NurPhoto/picture alliance

In Griechenland berichten die Medien kaum über die strukturellen Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze. Dafür nutzte der griechische Premier die Chance und traf sich mit Kourosh Baygi Nourmohammidi für ein medienwirksames Gespräch. Im nächsten Jahr stehen Wahlen an. Gerüchten zufolge könnte Athen die Bürger schon im Herbst an die Urnen rufen. Gute Bilder sind nun besonders wichtig. "Du hast aber toll Griechisch gelernt", so Mitsotakis kumpelhaft zu dem jungen Iraner. Auf dem offiziellen Twitteraccount des Regierungschefs sieht man die beiden beim Handschlag.

Anstatt daran zu erinnern, wie vielen Menschen in Griechenland es schlecht geht, liest man über dem Foto: Der Fall des Iraners "beweist, dass Griechenland ein offenes Land ist für alle, die sich integrieren wollen".

Flucht in andere EU-Länder

Auch der Afghane Fardeen Hasheme wollte sich in Griechenland integrieren, selbst nachdem er am Evros mehrmals zurück in die Türkei geschickt wurde, ohne dass ihm gestattet wurde, einen Asylantrag zu stellen. Er berichtet, dass er sich in einer Polizeiwache im Grenzgebiet komplett ausziehen und vor den lachenden Beamten gymnastische Übungen machen musste. Obwohl er nachweislich in Kabul für das englische Fernsehen gearbeitet hatte und nach der Übernahme der Macht durch die Taliban dort mit dem Tod rechnen musste, ist er für Griechenland nicht schutzbedürftig. Wochenlang lebte er ohne Papiere auf den Straßen Athens, dann im Lager Eleonas, das nun geschlossen wird.

Inzwischen ist er über die Balkanroute nach Österreich geflohen und hofft auf ein wenig Sicherheit: "Ich hatte Angst vor den Behörden in Griechenland. Ich habe immer noch Alpträume von all den Dingen, die man mir angetan hat. Die Menschen hier werden krank von der Situation. Ich habe gesehen, wie um mich herum normale Menschen verrückt geworden sind."

Michael Kientzle von der griechischen Flüchtlingshilfsorganisation Mobile Info Team beobachtet seit Jahren, wie Schutzbedürftige in Griechenland auf sich selbst gestellt sind: "Selbst für anerkannte Schutzberechtigte gibt es keine ernsthaften Integrationsbemühungen. Für viele Flüchtlinge ist es nahezu unmöglich, Sozialleistungen zu erhalten, und da der Zugang zum Arbeitsmarkt für Ausländer extrem schwierig ist, enden viele Menschen, die internationalen Schutz erhalten, auf der Straße." Oft bliebe nur die Flucht in ein anderes EU-Land.

Rückendeckung aus Brüssel

Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, hat in einer Stellungnahme vor wenigen Wochen die Athener Regierung zum ersten Mal öffentlich dazu aufgefordert, die Pushbacks zu beenden, und nicht lediglich, wie üblich, "den Anschuldigungen nachzugehen". Doch trotz der erdrückenden Beweislage gegen Griechenland hat sie das Land bisher weder offiziell gerügt, noch ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Während im EU-Parlament die Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen offen diskutiert werden, geben sich EU-Kommission und EU-Rat ahnungslos. Gerne beruft man sich unisono auf den EU-Türkei-Deal und darauf, dass die Türkei Asylsuchende zurücknehmen muss. Allerdings schweigt Brüssel dazu, dass das Abkommen auch vorsah, Asylsuchende aus Griechenland auf andere EU-Staaten aufzuteilen.

Cecilia Sanfelici von der Organisation Europe Must Act, fotografiert vor den Hütten eines Flüchtlingslagers
Cecilia Sanfelici wirft der EU Komlizenschaft vorBild: Privat

Cecilia Sanfelici von der pan-europäischen Initiative Europe Must Act ist mehr als enttäuscht von den Europäischen Institutionen. Brüssel sei nicht weniger als ein Komplize bei den Verbrechen an der EU-Außengrenze - und schuld daran, dass die Situation sich immer weiter verschlimmere: "Nicht nur hat die EU sich blind gestellt und völlig versagt dabei, Griechenland zur Rechenschaft zu ziehen", so Sanfelicis Fazit. "Sie hat auch einige der Praktiken, die gegen fundamentalte Rechte verstoßen, unterstützt und sogar finanziert: Betonmauern um Erstunterkünfte und gefängnisähnliche Camps. Die Europäische Union trägt genauso viel Verantwortung wie Griechenland."

Porträt eines Mannes mit braunen Haaren und Bart
Florian Schmitz Reporter mit Schwerpunkt Griechenland